Meine Besonderheit ist meine Stärke! – Ein Mutmach-Elternvortrag zum Thema „AD(H)S“
„Schön, dass Sie da sind! Die Schule braucht Sie als Eltern, um Kindern mit AD(H)S Unterstützung geben zu können.“ So begrüßte Frau Vera Bergmann, AD(H)S-Elternberaterin und ehemalige Lehrerin, das Publikum zu dem gut besuchten Elternvortrag am Arnold-Janssen-Gymnasium.
Frau Bergmann hob hervor, dass das Kollegium des AJG das offene Gespräch mit den betroffenen Familien suche, um die jeweiligen Kinder gemeinsam und bestmöglich unterstützen zu können. Bei einer Lehrerfortbildung vor den Sommerferien habe sie einen großen Teil des sehr engagierten Kollegiums kennenlernen und im Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit AD(H)S schulen dürfen: „Das sind wunderbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule!“, lobte sie.
Im Anschluss stellte Frau Bergmann durch eine Abfrage fest, dass alle Anwesenden durch die persönliche Betroffenheit im eigenen Umfeld zu dem Vortrag gekommen waren. Das wundere sie nicht, da das Thema AD(H)S bisher tatsächlich in der Regel nur diejenigen interessiere, die direkt oder indirekt davon betroffen seien. Dabei hätten so viele Menschen in unserem Umfeld AD(H)S, dass es für jeden ein Gewinn sei, mehr darüber zu erfahren.
Frau Bergmann stellte sich den Eltern vor, indem sie sie mit auf eine kurze Reise in ihre eigene Biographie nahm, da bei ihr selbst und auch bei ihrem Nachwuchs AD(H)S diagnostiziert wurde. Sehr eindrucksvoll und offen wurden die Zuhörenden über den Leidensdruck durch die schulischen Strukturen und die Schwierigkeiten im Alltag informiert, die für so viele den Ausschlag zur Diagnostik geben.
„Wie müssten die Bedingungen jetzt gerade für Sie sein, damit Sie vom heutigen Abend so gar nichts mitnehmen?“, wollte Frau Bergmann als Nächstes wissen: „Und wie müsste dieser Abend für Sie verlaufen, damit Sie sich auch noch nach einigen Tagen/Wochen an ihn erinnern könnten?“. Schnell wurde klar, dass die Anwesenden auf Abwechslung, Spannung, ein positives Gruppenerlebnis, wenig Ablenkung etc. hofften, um sich konzentrieren und sich die Inhalte einprägen zu können. Diese positiven Voraussetzungen oder auch „Aufmerksamkeitsbooster“, so Bergmann, erleichtern allen Menschen die Konzentration. Die von den Teilnehmenden genannten „Aufmerksamkeitskiller“ hingegen, wie z.B. Unterforderung, Überforderung, Lärm, Angst, Müdigkeit usw. stehen unserer Konzentration und Merkfähigkeit im Weg.
Menschen mit AD(H)S seien jedoch aufgrund der von der Referentin sehr plastisch erläuterten neuronalen Besonderheiten besonders auf das Vorhandensein von „Aufmerksamkeitsboostern“ angewiesen, da ihre Gehirne sehr viel schneller unter- oder auch überstimuliert sind. Für Kinder und Jugendliche mit AD(H)S ist es daher im (Schul-) Alltag oft nur schwer möglich, Konzentration zu erreichen und aufrechterhalten zu können.
Frau Bergmann erklärte, dass wenn AD(H)S-bedingt nicht genügend Botenstoffe im Gehirn zur Verfügung stünden, das Gehirn es nicht mehr schaffe, die sekündlich auf es einprasselnden Reize ausreichend zu filtern. Da aber gerade Schule ein reizintensiver Ort sei, komme es gerade hier besonders häufig zur Reizüberflutung. Es würden dann Dinge wahrgenommen, die für die jeweilige Situation nicht wichtig seien. Gleichzeitig würden wichtige Informationen überlagert und kämen nicht an. Gefühle würden dann sehr intensiv wahrgenommen, Impulse nur schwer kontrolliert. Die erhöhte Reizoffenheit führe auch zu weiteren Symptomen wie z.B. einer langsamen Arbeitsweise, vielen Flüchtigkeitsfehlern, Vergesslichkeit und Ungeschicklichkeit.
Interessanterweise seien sowohl das „Zappeln“ bei ADHS als auch das „Wegträumen“ bei ADS dabei körpereigene Strategien, um das Gehirn zu schützen und wieder arbeitsfähig zu machen. Eltern und Lehrkräfte sollten daher wissen: Das, was nach einem Nicht-Wollen aussieht, ist sehr häufig ein Nicht-Können. Frau Bergmann warnte davor, in diesen Situationen mit Druck und Härte zu reagieren, da der dadurch ausgelöste Stress das rationale Denken noch weiter außer Gefecht setze. Weiß man um diese Zusammenhänge, kann nach geeigneten Lösungen gesucht werden, statt das Kind immer wieder zu ermahnen oder zu bestrafen.
Wichtig: AD(H)S-bedingte Probleme sollten nicht die positiven Eigenschaften der betroffenen Kinder und Erwachsenen verdecken. Hier machte Frau Bergmann mit ihrer eigenen Lebensgeschichte und ihrem motivierenden Auftreten allen Anwesenden Mut. Denn: AD(H)S bedeutet auch Neugier und Begeisterungsfähigkeit sowie eine außergewöhnlich hohe Konzentration und außerordentliches Engagement bei Themen, die als besonders interessant und wichtig empfunden werden. Diese positive Seite kann auch in Schule genutzt werden, indem besondere Lernthemen oder -aufgaben in Aussicht gestellt werden.
Ein weiterer, für das soziale Miteinander wichtiger Aspekt, ist die hohe Empathie und Hilfsbereitschaft der meisten Betroffenen: Da alle Reize besonders sensibel aufgenommen werden, werden auch Stimmungen in hohem Maße registriert. Dieses Talent kann ebenfalls im (Schul-) Alltag positiv verstärkt werden und kommt der Gemeinschaft und der Förderung dieser zugute.
„Ich habe meine Probleme, aber ich habe auch besondere Talente und Stärken!“ – Das ist die Botschaft, die die Eltern ihren Kindern mitgeben dürfen. Durch das Anerkennen und Fördern von Stärken können viele negative Erfahrungen besser kompensiert werden, und positive Bestärkung löst Glücksgefühle aus, die wiederum eine vermehrte Ausschüttung der fehlenden Botenstoffe zur Folge haben, was wiederum die Symptome kurzzeitig lindern kann – und ein positives Selbstbild fördert.
Die Referentin ging während des gesamten Vortrages sehr empathisch auf die Fragen des Publikums ein. So gab sie umfassend Auskunft zu den Gefahren einer undiagnostizierten AD(H)S, wie z.B. Süchte und Depressionen. Auch die Frage bezüglich der Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung wurde gestellt. Hier konnte Frau Bergmann die Wirkweise und die Vor- und Nachteile von AD(H)S-Medikamenten erläutern und von persönlichen Erfahrungen aus ihren eigenen und anderen Familien berichten. Es wurde deutlich, dass manche Kinder und Erwachsene erheblich von einer Medikation profitieren, dass aber jede Familie selbst entscheiden sollte, welche Schritte für sie in Frage kommen.
Aber auch hier ist der entscheidende Punkt, den die Referentin immer wieder betonte, dass die Kinder über sich, über ihre Besonderheit – in angemessenem, altersgerechtem Umfang – Bescheid wissen sollten. Nur dann können sie sich selbst akzeptieren und ihr Verhalten verstehen und eben auch therapeutische Möglichkeiten wahrnehmen oder ablehnen. Das stärkt das Selbstbewusstsein und kann die negativen Erlebnisse, die in einem Leben mit AD(H)S immer wieder auftreten werden, entschärfen.
Zum Abschluss des sehr gelungenen Vortrags gab Frau Bergmann noch hilfreiche Tipps zur Entlastung in Alltags- und Hausaufgabensituationen und erklärte, dass in bestimmten Fällen auch ein Pflegegrad, eine Schulbegleitung, ein Nachteilsausgleich oder auch ein Behindertenstatus beantragt werden können. Sie freute sich sehr über das Interesse und die rege Beteiligung der anwesenden Eltern und regte auch die Gründung einer AD(H)S-Selbsthilfegruppe für Eltern in Neuenkirchen an, um diesen Austausch zu vertiefen.
Für weiterführende Informationen, Beratung oder Fortbildungen finden Sie Frau Bergmann auf der Seite www.adhs-huerdenlaeufer.de.